Weitere Rede aus Essen – Ein Jahr nach Hanau

21. Februar 2021

Rede der Didif-Jugend Essen:

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

ich darf euch heute hier im Namen der DIDF-Jugend begrüßen.

Genau ein Jahr ist es her, als in Hanau der rechte Terror wieder zuschlug. Der Terror, der 9 Menschen auf dem Gewissen hat. Der Terror, der von einem vermeintlich irren Einzeltäter ausging, wie es uns die staatlichen Behörden immer noch verkaufen wollen.

Vili Viorel Păun war eines der Opfer. Er ist in der Tatnacht dem Täter hinterhergefahren und wollte ihn aufhalten, damit nicht noch mehr Menschen ermordet werden. Er hat mehrmals versucht die Polizei zu kontaktieren, doch vergeblich, denn keiner ging ran. Heute wissen wir, dass mehrere Notrufe nicht angenommen wurden. Der hessische Innenminister Peter Beuth sagt zwar es wäre ein Versäumnis, aber ein Einzelfall. Bis heute ist die Leitung nicht frei! Wie viele Leben hätten gerettet werden können, wenn die Leitung offen gewesen wäre? Wieviele Leben hätten gerettet werden können, wenn der Notausgang in einem der Lokale nicht verschlossen gewesen wäre? Heute sind diese Fragen genauso ungelöst, wie vor einem Jahr!

Es ist eben dieser Terror, den wir in Hanau, Halle, Chemnitz, Kassel, Dessau, Solingen, Rostock, Dresden, Mölln, Nürnberg und Hamburg immer wieder zu spüren bekamen. Eine nicht enden wollende Liste von Morden, Anschlägen, Drohungen mit derselben Gesinnung, demselben Ziel und derselben anschließenden milden Bestrafung, die uns die staatlichen Behörden immer noch als Einzelfälle verkaufen wollen.

Die Rechtsradikalen agieren nicht nur im Untergrund. Sie sind im Verfassungsschutz, in Bundeswehr und Polizei, und schließlich auch im Parlament vertreten. Die Schuldigen und die Verursacher dieser Attentate gehen meist straffrei aus. Sind rechtsradikale Polizisten an Gewalttaten beteiligt, so ermitteln sie gegen sich selbst. Das nennt man Unabhängigkeit der Behörden. Es müsste eher Dauerverarschung heißen.

Die parlamentarische Version dessen ist die AfD. Die faschistoide Partei ist im Bundestag und allen Landtagen vertreten. Dabei ist die Partei eng mit rechten Gruppen und Zellen verbunden. Nicht wenige Abgeordnete beschäftigten bekannte Nazis als Mitarbeiter. Die 70 Mio. Euro, die die Parteistiftung jetzt erhält, kommen gerade richtig, um solche Gruppierungen aufzubauen, zu finanzieren und stärken. Rechte Kräfte produzieren aus der prekären Lage großer Teile der Bevölkerung eine noch größere Spaltung. Nicht die systemischen Gründe für soziale Abstiegsängste, Altersarmut, Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit werden benannt. Nein! Die vermeintlichen Ausländer, die Migranten, die Geflüchteten müssen für den Kapitalismus und seine Folgen den Kopf hinhalten. Das ist schon immer die Masche der Rechten gewesen! Spalten, lügen, aufhetzen, ausgrenzen, vom Märchen der einigenden Nation erzählen, in der eben anders Aussehende und anders Denkende keinen Platz haben.

Wir müssen dieser Spaltung etwas entgegensetzen. Jederzeit. Überall. Ob am Arbeitsplatz, wo ethnische oder religiöse Zugehörigkeit die Belegschaft spaltet. Oder in den Schulen, in denen unser Bildungssystem immer noch “Ausländerklassen“ schafft. Oder in unserem Stadtteil, wo der Polizist wieder Racial Profiling betreibt. Setzen wir dem nichts entgegen, lacht am Ende der Profiteur dieses Systems. Nicht die deutschen Arbeiter oder Schüler sind die langfristigen Profiteure. Wir kommen unserem Ziel für eine gerechte Welt frei von Unterdrückung und Rassismus keinen Schritt näher, wenn wir uns spalten lassen! Denn wir führen alle die gleichen Kämpfe am Arbeitsplatz, in der Schule und an der Uni!

Die Toten von Hanau und Halle, der Mord an Walter Lübcke, die Opfer des NSU, die Morddrohungen gegen Politikerinnen und Politiker, die Drohungen des NSU 2.0 gegen engagierte Frauen, die Ignoranz gegenüber dem Sterben von tausenden Geflüchteten im Mittelmeer – sie alle zeigen uns, wie notwendig ein gemeinsames Organisieren und der gemeinsame Kampf gegen Rassismus und Faschismus ist.

Damit sich Hanau nicht wiederholt, bedarf es dem gemeinsamen Kampf gegen den allgegenwärtigen rechten Sumpf, der immer größere Teile der Gesellschaft zu überschwemmen droht. Eine Kampfansage gegen den strukturellen Rassismus und gegen die mit ihm verbundene tagtägliche Unterdrückung und Verarmung der Bevölkerung ist von Nöten. Wir dürfen uns nicht an der Spaltung beteiligen, diese weder aktiv fördern noch passiv wegschauen. Nur gemeinsam können wir Widerstand leisten. Nur mit geeinten Kräften können wir dem alltäglichen Terror etwas entgegensetzen. Nur Schulter an Schulter können wir den rechten Terror, Rassismus und Faschismus besiegen.

Deshalb fordern wir als DIDF-Jugend:

  • Eine lückenlose Aufklärung aller rechtsterroristischer Anschläge! Die Kriminalisierung der Opfer muss ein Ende haben!
  • Ein Verbot aller rassistischer und faschistischer Organisationen – denn es gibt kein Recht auf Nazipropaganda!
  • Die Auflösung des Verfassungsschutzes und die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen!

Kein Vergeben, kein Vergessen!


Die Rede vom Büdnis Essen stellt sich quer ist zu finden unter: https://essq.de/index.php/2021/02/20/redebeitrag-ein-jahr-nach-hanau/

Am 19. Februar 2020 ermordete ein 43-jähriger Hanauer insgesamt zehn Menschen. In und vor zwei Shisha-Bars, einem Kiosk und einer Bar erschoss er neun Bürger*innen von Hanau mit Migrationshintergrund. An Treffpunkten also, wie es sie nicht nur in Hanau, sondern in ganz Hessen, ja – der gesamten Bundesrepublik gibt. Die Orte waren keine Zufallstreffer, sondern Täter ganz bewusst ausgesucht. Besonders Shisha-Bars sind oftmals Treffpunkte migrantischer Communities, ja, eine Art Schutzraum für ebendiese. Dieses Gefühl von Schutz und Sicherheit hat der Täter den Menschen in Hanau und darüber hinaus genommen.

Auf seiner Internetseite veröffentlichte der 43-jährige ein Bekennerschreiben, das seinen ganzen Verfolgungswahn und Rassismus offenlegt. Er wähnte sich von Geheimdiensten verfolgt und wollte ganze „Völker komplett vernichten“. Doch wir wollen nicht den Täter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Das wäre nicht nur pietätlos, sondern würde auf einen fatalen Irrtum hinauslaufen. Den Irrtum nämlich, dass es sich um einen Einzeltäter, eine Art “einsamen Wolf” gehandelt habe. Und diese Annahme liegt ja zunächst auch nahe, denn immerhin hat er die Tat allein begangen.  Außerdem ist diese Sichtweise auf den Täter unglaublich bequem, denn so muss sich eine Gesellschaft nicht fragen, welchen Teil sie dazu beigetragen hat.

Die Schuldzuweisung ist klar und das Urteil ist gefällt: ein psychisch kranker Mann konnte die eigene Realität nicht mehr von der eigentlichen unterscheiden, hat sich – obwohl psychisch krank – ganz legal eine Waffe besorgt und ist Amok gelaufen.

Das, liebe Freundinnen und Freunde, ist der Irrtum, den wir so in keinster Weise stehen lassen werden. Wir wollen wissen: wo hat er denn seine Motive, also seine geistige Munition für diese Tat, hergehabt? Ich habe eingangs zwei Schlagworte erwähnt: Verfolgungswahn und Rassismus. Wir, die wir hier versammelt sind, wissen, dass Rassismus nicht im stillen Kämmerlein entsteht. Ganz im Gegenteil, er begegnet uns überall! Ob am Arbeitsplatz oder im Sportverein, am Stammtisch oder bei der Familienfeier – er ist potenziell an jeder Ecke zu finden. Haben Gesellschaft und Politik das ein Jahr nach Hanau endlich begriffen?

Immerhin: Die Bundesregierung hat im Dezember 89 Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Rassismus beschlossen. Dafür soll bis 2024 mehr als eine Milliarde Euro investiert werden. Das ist schön und gut. Aber, was bringt das alles, wenn doch die eigentliche Erkenntnis noch nicht gereift ist? Nämlich die, dass Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft kommt und auch nur von dort aus bekämpft werden kann.

Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen hat ein Jahr nach Hanau ein ernüchterndes Fazit gezogen. Marianne Ballé Moudoumbou von der Pan African Women’s Empowerment and Liberation Organisation hat es auf den Punkt gebracht: “In der Bundesrepublik leiden wir unter einem selektiven Gedächtnis, was Leid von gesamten Menschengruppen anbelangt.” Ich möchte provokant hinzufügen: wir leiden unter selektiver Ignoranz, was das Leid von bestimmten Menschengruppen anbelangt! Wie wenig Bewusstsein herrscht doch in den deutschen Amtsstuben für die Probleme, die NUR Menschen mit Migrationshintergrund haben. Warum haben wir noch immer kein Antidiskriminierungsgesetz mit mehr Klagemöglichkeiten für Betroffene und ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen? Ein Ministerium, das sich federführend um die Gleichstellung von Menschen mit Migrationsgeschichte, um Antidiskriminierung und eine menschenrechtsbasierte Asyl- und Migrationspolitik kümmert? Ganz einfach: Weil es die Belange von sog. “Minderheiten” sind. Und solange PoC den Rang von Menschen zweiter und dritter Klasse haben, von Behörden und Mitmenschen gegängelt und benachteiligt werden, so lange es Menschen gibt, die die AfD wählen – ja, so lange müssen und werden wir dem Rassismus den Kampf ansagen!

Ich möchte zum Ende kommen, aber noch kurz auf den anderen Beweggrund des Täters eingehen: Verfolgungswahn. Dabei handelt es sich um eine psychische Erkrankung, die bedenkliche Überschneidungen mit einem Phänomen hat, das uns in diesen Tage ganz besonders vertraut ist: Verschwörungserzählungen. Die gibt es nicht erst seit den Corona-Maßnahmen, aber sie treten seitdem so offensichtlich zutage, dass niemand mehr die Augen davor verschließen kann. Und ob ihre Anhänger*innen nun Angela Merkel, Bill Gates oder, wie immer in der Geschichte des weißen Menschen: “die Juden” für die Pandemie verantwortlich machen, so eint sie doch zumindest das Eine: sie haben keine Berührungsängste mit Rassisten, sie sind brandgefährlich und sie schrecken nicht davor zurück, Ihre menschenverachtenden Ideen mit Gewalt durchzusetzen! Lasst uns deswegen weiterhin zusammenhalten und diesem Wahnsinn die Stirn bieten. Nur so können wir dazu beitragen, dass sich Hanau nicht wiederholt!

Kaloyan, Fatih, Sedat, Vili Viorel, Gökhan, Mercedes, Ferhat, Hamza und Said Nesar.

Kein Vergeben, kein Vergessen!

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